Politik

Contec-Forum: Deutschland muss in Sachen Pflege lernen

Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um sich auf den bevorstehenden Pflegenotstand vorzubereiten und möglichst innovative Ideen für eine bessere Versorgung in die Regelversorgung zu überführen – ein Beispiel aus Holland gab frische Denkanstöße. Die zentrale Frage bei dem 13. Contec Forum in Berlin lautete daher: Wie wächst zusammen, was zusammengehört?

- Jos de Blok gab den Teilnehmern mit dem Care-Modell "Buurtzorg" eine Reihe von Denkanstößen.Foto: Holger Göpel

Auf dem diesjährigen Contec-Forum im Berliner Humboldt Carré erklärte Detlef Friedrich, Geschäftsführer der contec GmbH zum Auftakt: "Selbstbestimmung und Teilhabe ist das, was uns künftig in der Pflege bestimmen wird." Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff sei ein Anfang, aber damit werde sich nicht plötzlich alles zum Besseren ändern. Denn auf diesen teilhabeorientierten Pflegebegriff seien die Pflegekräfte überhaupt nicht vorbereitet. Das brauche Zeit und neue Wege in der Ausbildung. Die ambulante und die stationäre Versorgung existieren immer noch nebeneinander, Schnittstellen gibt es kaum.

Dr. Martin Schölkopf, Leiter der Unterabteilung Pflegesicherung im BMG, muss die Frage, wie die Trennung ambulant-stationär endlich überwunden werden kann, aufschieben. Denn in seinem Ministerium sei man mit einem ganz anderen Thema befasst: "Aktuell haben wir viel zu tun mit der Umsetzung der beschlossenen Pflegestärkungsgesetze." Das Gesundheitsministerium habe aus seiner Sicht in dieser Legislaturperiode gut abgearbeitet, was auf der To-Do-Liste der Großen Koalition stand: "Wir haben fast alles umgesetzt, was im Koalitionsvertrag festgehalten wurde. Das heißt aber nicht, dass schon genug getan worden ist." Das Pflegeberufereformgesetz etwa stehe noch aus – damit wird sich jetzt der Koalitionsausschuss befassen müssen, nachdem alle Verhandlungen zwischen den Bundestagsfraktionen und BMG / BMFSFJ gescheitert sind. Und dann muss es darum gehen, die Pflegestärkungsgesetze in der praktischen Umsetzung zu begleiten, die Fachkräftesituation zu verbessern, neue Wohnformen für Pflegebedürftige zu entwickeln, Prävention und Reha-Maßnahmen zu stärken sowie die Effizienz in der Pflege zu steigern.

Auch Martina Hoffmann-Badache, Staatssekretärin im Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen, plädierte dafür, Wohngemeinschaften attraktiver zu machen und klarer zu definieren. "Es darf nicht darum gehen, wo ein Pflegebedürftiger lebt. Die Rolle der stationären Pflege muss sich ändern und sich in das Quartier hinein öffnen, zum Beispiel in Richtung Gesundheitszentren", so die Staatssekretärin. Sie setze sich dafür ein, das Tempo in der Reformierung der Pflege jetzt nicht zu drosseln. Während Schölkopf erst einmal durchatmen will, blickt Hoffmann-Badache schon wieder nach vorn: "Nach dem PSG III ist vor dem PSG IV."

Vielleicht werden dann auch die Sektorengrenzen aufgelöst. Ein Modell, wie sie in der Praxis überwunden werden können, brachte Michael Barkow, Leiter des Qualitätsmanagements der BeneVit Gruppe, mit zum Forum. Er erklärte, wie ambulante Individualität und stationäre Sicherheit miteinander vereinbar werden und was "stambulant" bedeutet. Ordnungsrechtlich ist die BeneVit-Modelleinrichtung in Wyhl stationär, leistungsrechtlich aber ambulant. Auch kostentechnisch liegt "stambulant" in der Mitte. Das BeneVit-Hausgemeinschaftskonzept funktioniert wie eine WG. Dort leben Menschen mit allen Pflegegraden in einzelnen Wohnungen und Wohngruppen, die ständig auf eine Pflegefachkraft und eine Hausdame zurückgreifen können. In den Häusern wird gekocht, gewaschen und gebügelt. Unterstützung gibt es nur da, wo sie wirklich notwendig ist. Dabei gibt es gewisse Grundleistungen, wie beispielsweise den Toilettengang oder die Essensversorgung, die Pflegebedürftige durch Wahlleistungen ergänzen können. "Wir sehen den Alltag als Therapie. Die Bewohner gestalten ihre Zeit selbst", so Barkow. Wichtig sei für das Wohnkonzept auch die Einbindung in die Kommune. Es gibt in den Häusern ein Café, wo alle Nachbarn willkommen sind. Und die Bewohner gehen wiederum zu Vereinsveranstaltungen, auf Wochenmärkte und zu Schützenfesten. Trotzdem – auch BeneVit muss sich um Fachkräfte bemühen. Daher macht man seinen Mitarbeiter gute Angebote: Es gibt eine Kinderbetreuung, Physiotherapie, Arbeitserleichterung durch kurze Wege und EDV, Weiterbildungsangebote, Wellnesswochenenden und Coachings. "Eine Ambulantisierung in der bisherigen Form wird zum finanziellen Kollaps der Sozialsysteme führen; alternativ seien massiven Beitragserhöhungen und/oder eine Absenkung der Qualität", so Barkow.

Eine andere, innovative Pflegeversorgung hat Jos de Blok in den Niederlanden implementiert. "Buurtzorg" heißt sein Unternehmen, das die Pflege revolutioniert. Ins Deutsche übersetzt heißt das nichts anderes als Nachbarschaftshilfe. Sein Motto lautet: "Menschlichkeit vor Bürokratie". Als er vor nicht einmal zehn Jahren angetreten ist, um eine andere Form der Pflege zu finden, war das niederländische Pflegeleistungs- und Abrechnungssystem genauso zerfasert wie das deutsche. Es gab nicht genug Pflegepersonal für die steigende Anzahl von Pflegebedürftigen und die Krankenversorgung, Pflege und Prävention waren im Gesundheitssystem strikt voneinander getrennt. Soweit die Ausgangslage. De Blok bildete nach und nach in den ganzen Niederlanden Teams mit maximal zwölf Pflegefachkräften, die in der Nachbarschaft qualifizierte und dokumentierte Pflegeplanungen erstellen. Angefangen mit einem Team aus vier Pflegekräften wurden bis heute 10.000 Pflegekräfte in 900 Teams sowie 4000 Social Care Worker. Die versorgen jedes Jahr 70.000 Klienten. Die Pflegekräfte, die alle generalistisch ausgebildet sind, organisieren für die Pflegebedürftigen ein Netzwerk aus Menschen (wie z.B. Physiotherapeuten), die ihnen ein möglichst eigenständiges Leben ermöglichen. Die Vision des Projekts ist es, Unabhängigkeit zu unterstützen, wo immer es geht. "Wir brauchen für diese Arbeit ein hohes Bildungsniveau unserer Pflegekräfte. Sie müssen in der Lage sein, in ihrer Nachbarschaft Pflegebedürftiger aller Art zu betreuen. Und das 24 Stunden am Tag." 40 Prozent der Angestellten haben einen Bachelor-Abschluss. Und die Pflegekräfte? Die wollen gern bei "Buurtzorg" arbeiten und kündigen reihenweise ihre alten Jobs – obwohl es so aussieht, dass sie 24 Stunden am Tag für alles und jeden verantwortlich sind. "Das Teamgefühl ist bei uns sehr groß und jedes Team ist anders. Wir konzentrieren uns auf Vielfalt und nicht auf Standardisierung", so de Blok. Letztlich führe diese Art der Pflege dazu, dass die Menschen mehr Zeit in Selbstständigkeit verbringen können.

Das Unternehmen wächst sehr schnell: 2007 finanziell unabhängig mit einem Team und vier Nurses gegründet, wird jetzt schon ein Umsatz von 350 Mio. Euro erwirtschaftet; 91% der Erlöse kommen aus der Krankenversicherung, 7% aus der LongTerm Care-Finanzierung der Kommunen und 2% als Eigenanteil der Klienten. Kleiner Overhead, kein klassisch-hierarchisches Management, viel selbstverantwortliches Arbeiten der Teams mit der Orientierung am Patientenwohl. Die Umsatzrendite der Organisation liegt derzeit bei etwa vier Prozent, die erwirtschafteten Überschüsse fließen in neue Projekte wie zum Beispiel Hospizarbeit. Die Idee sei inzwischen ein "Exportschlager" und ist bisher schon in den USA, UK und Japan aufgegriffen worden.  Auch aus Deutschland habe er schon Anfragen bekommen, so de Blok.

Das 13.contec-Forum wird heute fortgesetzt. Da stehen die z.B. Themen Eingliedeungshilfe und Pflege auf dem Programm.

Autoren: Dana Bethkenhagen / Vincentz Network Hauptstadtbüro, Holger Göpel

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