Politik

Forderungen nach Strukturreform der Pflegeversicherung werden lauter

In den Berliner Sondierungsgesprächen fehlt immmer noch ein Konsens zwischen den potenziellen Regierungsparteien. Die Initiative Pro-Pflegereform mahnt eine "dringend nötige, grundlegende Strukturreform der Pflegeversicherung" an und verweist dabei auf das in Auftrag gegebene Reformgutachten von Prof. Rothgang.

- Bernhard Schneider: "Die Trennung von ambulant und stationär ist innovationsfeindlich, behindert flexible Wohnformen".Foto: Kerstin Hamann

"Wenn die nächste Regierung eine wirkliche Verbesserung für Pflegebedürftige und Pflegende will, muss sie die Pflegeversicherung strukturell so verändern, dass die pflegebedingten Kosten für alle Pflegebedürftigen finanzierbar sind, unabhängig davon ob sie zuhause, in einer Betreuten Wohnung oder im Pflegeheim wohnen", gab die Initiative Pro-Pflegereform in einer Erklärung bekannt. Wie dieser grundlegende Strukturwechsel umzusetzen sei und welche Verbesserungen damit erzielbar seien, zeige das Reformgutachten von Prof. Dr. Heinz Rothgang in zwei Szenarien.

Zunächst werde aufgezeigt, wie die Sektorengrenzen und die Unterschiede zwischen stationärer und ambulanter Pflege abgebaut werden können. "Die Trennung von ambulant und stationär ist innovationsfeindlich, behindert flexible Wohnformen", sagt Bernhard Schneider, Sprecher der Initiative Pro-Pflegereform. Es sei zudem für Pflegebedürftige ungerecht, weil der Lebensort die Leistung bestimmt. Das Reformgutachten zeige, dass "die Pflege leistungsrechtlich und leistungserbringungsrechtlich nach denselben Regeln funktionieren kann" und zwar unabhängig davon, ob die Pflegebedürftigen zu Hause individuell betreut werden, in einer ambulanten Pflege-WG oder in einer Wohngruppe eines Pflegeheims leben. Damit werde die Pflege nicht mehr entlang der Trennlinie ambulant/stationär sondern über Wohnen/Pflege organisiert.
Es werde Zeit, die sektorale Fragmentierung hinter sich zu lassen und in diesem Zuge auch dafür zu sorgen, dass die "Finanzierungsverantwortung für alle Leistungen der medizinischen Behandlungspflege in den Bereich der Krankenversicherung übernommen wird". Der wichtigste Aspekt dabei ist jedoch, dass alle Pflege- und Betreuungsleistungen sowie die Leistungen der Rehabilitation aus einer Hand kommen und nicht zwischen Krankenkassen und Pflegekassen hin- und hergeschoben werden. Deshalb könne auch der Vorschlag aus Bayern aufgegriffen werden, diese Leistungen komplett in die Finanzverantwortung der Pflegekasse zu verlagern. "Für die Leistungserbringung, aber auch für Pflegebedürftige und Pflegedienste kann mit diesem Paradigmenwechsel endlich der Knoten der sektoralen Lähmung durchschlagen werden", sagt Schneider.

"Wir wollen mit dem Abbau der Sktorengrenzen nicht mehr Geld, sondern dafür sorgen, dass das aktuelle Budget effizienter eingesetzt wird. Wir bieten ein Reformszenario, das nichts kostet und trotzdem die Innovationsbremse löst, Pflegeleistungen flexibler macht, Angehörigenpflege auch im Pflegeheim ermöglicht. Ich sehe keinen Grund, warum sich die Koalitionäre diese Chance entgehen lassen sollten", so Schneider weiter.
Die Pflegeversicherung sei die 5. Säule der Sozialversicherung und müsse als solche "den Lebensstandard gegenüber allgemeinen Lebensrisiken absichern". Das sei nur gegeben, wenn diese Risiken entweder vollständig über die Sozialversicherung gedeckt werden oder das absolute Restrisiko privat absicherbar ist. Das Reformgutachten habe deshalb im zweiten Szenario untersucht, wie das finanzielle Risiko des Einzelnen aufgehoben werden kann. Mehr als 450.000 Pflegebedürftige seien auf Sozialhilfe angewiesen, "und zwar, weil die Pflegeversicherung nur einen festen Sockelbetrag" bezahle, der die notwendigen Leistungen aber nicht abdecke.

"Also übernehmen die Versicherten alle weiteren Kosten selbst, ohne zu wissen, wie hoch diese in der Zukunft sein werden und wie lange sie anfallen. Ein solches Risiko ist nicht versicherbar.
Das Reformgutachten bietet mit dem "Sockel-Spitze-Tausch" einen hochinteressanten Lösungsansatz. Demnach bezahlen die Versicherten zukünftig einen festen Sockelbetrag (Eigenanteil) und die Pflegeversicherung übernimmt alle darüber hinausgehenden, notwendigen Pflegekosten. Mit der Einführung einer Karenzzeit kann dieser Eigenanteil auch zeitlich fixiert und so in der Höhe zuverlässig berechnet werden. Je nach koalitionspolitischer Großwetterlage kann der Eigenanteil für die Versicherten von Null bis 400 Euro festgesetzt werden. Ein bedeutender Vorteil des Szenarions ist: Der Eigenanteil wird kalkulierbar, kann so abgesichert werden und mindert damit das Risiko der Altersarmut", so die Ansicht der Initiative.
Das Reformgutachten wird derzeit bundesweit breit diskutiert. "Wir erfahren Zustimmung für die Reformvorschläge sowohl von den Trägern und Verbänden als auch aus Wissenschaft und Politik", berichtet Schneider. Im Mai diskutierten die pflegepolitischen Sprecher der Bundesregierung die Forderungen im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin mit 130 Gästen aus Politik und Pflegebranche. Im August überreichte Schneider Gesundheitsminister Herrmann Gröhe das Papier bei einem Pflegefachgespräch in Besigheim. Im November stellte er das Gutachten gemeinsam mit Prof. Rothgang auf der ConSozial in Nürnberg vor. Auch bei einer Tagung der SGB-XI-Referenten von Bund und Ländern haben die Reformvorschläge positive Resonanz ausgelöst, ebenso im Fachausschuss "Alter und Pflege" des Deutschen Vereins. In den kommenden Wochen finden Gespräche im Deutschen Land- und Städtetag und beim Bündnis für gute Pflege e. V. statt.

"Was uns gerade Pflegekräfte immer wieder fragen ist, warum die Reformvorschläge nicht schon umgesetzt werden", berichtet Schneider, "obwohl sie doch genau dort ansetzen, wo das eigentliche Problem liegt". Denn die Initiative Pro-Pflegereform hat die Vision einer neuen und besseren Pflegeversicherung und das Gutachten von Prof. Rothgang zeigt, wie sie funktionieren kann. "Nach über 20 Jahren Pflegeteilversicherung wird es endlich Zeit, einen weiteren mutigen Reformschritt zu machen", sagt Schneider, "die vier Koalitionsparteien haben die Chance und mit dem Reformgutachten auch das Rezept dafür". Nun gilt es, zu handeln.
Zum Hintergrund:
Die Initiative Pro-Pflegereform setzt sich dafür ein, dass gute Pflege bezahlbar wird. Über 100 Verbände, Organisationen und Träger mit insgesamt mehr als 800 Pflegeeinrichtungen unterstützen inzwischen die Reformvorschläge der Initiative. Prof. Dr. Heinz Rothgang hat im Auftrag der Initiative ein Gutachten erstellt, das drei Szenarien einer alternativen Ausgestaltung der Pflegeversicherung untersucht. Das Gutachten zeigt auf, dass sowohl der Abbau der Sektorengrenzen als auch eine Pflegevollversicherung (mit oder ohne Eigenbeteiligung) sinnvoller sind als das aktuelle Modell und über geringen Beitragserhöhungen finanziert werden können. Jeder, der die Initiative unterstützen möchte, kann sich unter www.pro-pflegereform.de kostenlos registrieren. Ansprechpartner für die Initiative ist die Evangelische Heimstiftung in Stuttgart.