Politik

Start eines ambulanten Schwerpunktzentrums für contergangeschädigte Menschen

Die rund 800 contergangeschädigten Menschen in Nordrhein-Westfalen leiden mit zunehmendem Alter verstärkt unter den Lang­zeitauswirkungen ihrer Beeinträchtigungen. Doch das Gesundheits­system ist nicht auf ihre besonderen Bedürfnisse und Bedarfe ausgerichtet, und in der Ärzteschaft fehlen oftmals die notwendigen Erfahrungen bei Diagnose und Therapie. Um die Versorgung der Betroffenen zu verbessern, nimmt ein ambulantes Schwerpunkt­zentrum zur Behandlung contergangeschädigter Menschen an der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht seine Arbeit auf.

-

"Das ambulante Schwerpunktzentrum ist ein wesentlicher Schritt zur Verbesserung der Versorgung conterganbetroffener Menschen in Nordrhein-Westfalen. Contergangeschädigte Menschen haben besondere Bedarfe. Diese müssen wir erkennen und ihnen die notwendigen Hilfen und Unterstützungsangebote zur Verfügung stellen", erklärte Gesundheitsministerin Barbara Steffens bei der Eröffnung des Zentrums in Nümbrecht. "Ein weiterer Baustein ist, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten, die die Betroffenen an ihrem Wohnort versorgen, durch Schulungen mit den besonderen Bedarfen der Zielgruppe und den entsprechenden Therapiemöglichkeiten vertraut gemacht werden. Ziel ist es, Betroffenen durch bedarfsgerechte Behandlung, Prävention und Unterstützung auch im Alter ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Wir wollen sie gesundheitlich sowie in ihrem Alltags- und Arbeitsleben unterstützen", so Steffens weiter. Contergangeschädigte Menschen leiden unter den schweren gesund­heitlichen Auswirkungen des Wirkstoffs Thalidomid, der vor fast 60 Jahren unter dem Namen Contergan auf dem Markt war. Eine vom Land NRW in Auftrag gegebene Studie hat 2015 erstmals die besonderen Versorgungsbedarfe contergangeschädigter Menschen dokumentiert und unter anderem die Einrichtung eines Schwerpunkt­zentrums empfohlen. Auf Initiative und unter der Moderation des NRW-Gesundheits­ministeriums mit Beteiligung des Interessensverbands Contergangeschädigter e.V. NRW führten Gespräche mit Kranken­kassen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Ärztekammer Nordrhein und der Rhein-Sieg-Klinik zur Einrichtung des Schwerpunktzentrums und zur Sicherstellung der Finanzierung der Behandlungen. Die Rhein-Sieg Klinik hat durch eine ambulante Sprechstunde für contergan­geschädigte Menschen jahrelange Erfahrung in der spezifischen Diagnostik und Therapie der Betroffenen. "Wurden die sogenannten Ursprungsschäden von den Betroffenen über Jahrzehnte bemerkenswert gut kompensiert, leiden sie jetzt massiv unter Folgeschäden wie Nacken- und Rückenschmerzen sowie im Bereich der Extremitäten an Schulter-, Knie- und Hüft­schmerzen. Weiterhin liegt ein deutlich erhöhter Anteil an psychischen Beeinträchtigungen vor. Durch das Schwerpunktzentrum wollen wir die bisher festgestellte Unterversorgung und vor allem die Fehlver­sorgung der Betroffenen vermeiden", sagte Prof. Dr. Klaus M. Peters, ärztlicher Leiter des Schwerpunktzentrums und Chefarzt der Ortho­pädie in der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik Nümbrecht. Udo Herterich, Vorsitzender des Interessenverbandes Contergan­geschädigter NRW, hat sich intensiv für die Einrichtung eines Schwerpunktzentrums eingesetzt. "Es wird es darum gehen, therapeutische Lösungsangebote auszuprobieren, aber auch eine umfassende Beratung zu bekommen hinsichtlich unserer besonderen Bedarfe im Wohnumfeld und Alltag", so Herterich. Im Schwerpunktzentrum werden während eines mehrtägigen ambulanten Aufenthaltes körperliche und gegebenenfalls psychische Folgeschäden der Conterganschädigungen diagnostiziert. Ein indivi­duell erstellter Therapieplan enthält neben ärztlichen und zahn­ärztlichen Behandlungen auch Empfehlungen für weitere Maßnahmen wie etwa Psycho-, Physio- oder Ergotherapie oder Ernährungs­beratung. Zu den weiteren Angeboten des Zentrums gehören Präventionsmaßnahmen zur Begrenzung von Folgeschäden sowie die Ermittlung des Bedarfs an Hilfsmitteln – wie etwa Rollstühle oder spezielle Betten – sowie Unterstützung bei deren Inanspruchnahme.

Allein in Deutschland wurden durch das Medikament Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid, das im Jahr 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gebracht und Ende 1961 von der Herstellerfirma zurückgezogen wurde, etwa 5000 Menschen geschädigt. Bei der Einnahme in der frühen Schwangerschaft verursachte Thalidomid Schädigungen an Embryonen. Heute leben noch rund 2400 contergangeschädigte Menschen, davon rund 800 in Nordrhein-Westfalen.