Recht

Betreute Demenz-WG: Sozialämter dürfen bei Kosten der Unterkunft nicht sparen

Bei Mietern in ambulant begleiteten Demenz-Wohngemeinschaften, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, darf das Sozialamt nicht an den Kosten der Unterkunft als Teil der Hilfe zum Lebensunterhalt sparen. Ein Rechtsgutachten kommt zu dem Schluss: Die besonderen Bedarfe der Erkrankten sind bei der Angemessenheitsprüfung grundsätzlich höher zu bewerten als die örtliche Referenzmiete.

- Was darf das Wohnen in einer ambulant begleiteten Demenz-Wohngemeinschaft kosten, wenn die Mieterin oder der Mieter auf Sozialhilfe angewiesen ist? Diese Frage ließ der Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft NRW in einem Gutachten juristisch klären.Foto: Uwe Jesiorkowski/wig

Besondere Bedarfe der Mieter in ambulant begleiteten Demenz-Wohngemeinschaften, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, sind bei Angemessenheitsprüfung wichtiger als Referenzmiete. Das Sozialamt darf demzufolge nicht an den Kosten der Unterkunft als Teil der Hilfe zum Lebensunterhalt sparen.

Zu diesem Schluss kommt ein juristisches Gutachten, das der Fachverband wig Wohnen in Gemeinschaft NRW bei den Sozialrechtlern Prof. Dr. Utz Krahmer (Düsseldorf) und Prof. Dr. Sven Höfer (Freiburg) in Auftrag gegeben hat, um eine "möglichst objektive Bewertung der Rechtslage" zu erhalten. Nach Angaben des Fachverbandes sind durchschnittlich bis zu 50% der Mieter in einer ambulant begleiteten Wohngemeinschaft auf Sozialhilfe angewiesen.

Der Hintergrund: Ambulant betreute Wohngemeinschaften für an Demenz erkrankte Mieterinnen und Mieter müssen besondere Anforderungen an den Wohnraum erfüllen. Diese Anforderungen führen zu erhöhten Kosten. Immer mehr Sozialämter in NRW betrachten diese Kosten jedoch als unangemessen. Bei Mietern, die auf Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch XII (Sozialhilfe) angewiesen sind, bewilligen die Behörden deshalb immer häufiger nur noch solche Unterkunftskosten, die auf Grundlage einer örtlichen Referenzmiete für einen alleinstehenden Empfänger von Grundsicherung oder Hartz IV gelten ("schlüssiges Konzept"). Diese Praxis der Sozialämter ist rechtlich nicht haltbar. Die beiden Sozialrechtler Krahmer und Höfer kommen in dem Gutachten mit dem Titel "Sozialhilferechtlich anzuerkennende Unterkunftskosten für demenzerkrankte, materiell bedürftige Personen in ambulant betreuten Wohngemeinschaften" zu dem Schluss: "Während für 'normalen' Wohnraum in der Praxis die Referenzmiete die entscheidende Größe ist, kann sie bei Wohnraum in ambulant betreuten Wohngemeinschaften nur eine Zwischengröße sein. In den Wohngemeinschaften leben Menschen mit besonderen Bedarfen. Diese besonderen Bedarfe sind in die Angemessenheitsprüfung einzubeziehen. Für Wohnraum in ambulant betreuten Wohngemeinschaften kommt damit der Ebene der konkreten Angemessenheit besondere Bedeutung zu." Die Berücksichtigung der besonderen Bedarfslagen in ambulant betreuten Wohngemeinschaften für an Demenz Erkrankte stehe dabei im Spannungsverhältnis zwischen dem Auftrag der Sozialhilfe, ein Leben in Würde und damit ein sozial integriertes Leben zu ermöglichen (s. Art. 1 i.V.m. Art. 20 GG sowie § 1 SGB XII) auf der einen Seite und der Begrenzung der Sozialhilfeleistungen auf das Notwendige zur Bedarfsdeckung (§ 9 SGB XII) auf der anderen Seite, so die Juristen. Dieses könne nur durch eine strikte Orientierung an fachlichen Standards aufgelöst werden. "Die fachliche Notwendigkeit bestimmt die anzuerkennenden Sonderbedarfe und die in der Folge damit verbundenen Kosten. Für die baulichen und ausstattungsbezogenen Besonderheiten in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft bedeutet dies, dass nicht alles Wünschenswerte als sozialhilferechtlich angemessen gelten kann. Angemessen ist das unabweisbar fachlich Gebotene – dieses ist dann aber auch zu finanzieren und zwar unabhängig von abstrakt bestimmten Angemessenheitsgrenzen. Fachverband "vollumfänglich bestätigt": "Durch das Rechtsgutachten sehen wir unsere juristischen Bedenken gegen die restriktive Haltung der Sozialverwaltung vollumfänglich bestätigt", sagt der wig-Vorsitzende Claudius Hasenau aus Gelsenkirchen. "Die Kosten der Unterkunft in ambulant begleiteten Wohngemeinschaften sind nicht mit dem sozialen Wohnungsbau zu vergleichen. Ob Anforderungen an den Brandschutz oder Teilmöblierung, aber auch die ordnungsrechtlichen Vorschriften aus dem Wohn-Teilhabe-Gesetz – die Unterschiede liegen auf der Hand." Das Gutachten schaffe in einer Zeit wachsender Nachfrage die dringend benötigte Rechtssicherheit für Investoren und Pflegedienste, die Wohngemeinschaften begleiten oder aufbauen wollen, sagt der Dortmunder Sozialrechtler und wig-Justiziar Dieter Otto, der erste Klageverfahren gegen negative Bescheide des Gelsenkirchener Sozialamts führt. Zudem beruhige es die betroffenen Mieter sowie ihre Angehörigen, die schon fürchteten, wegen der Kürzungen die Wohngemeinschaften verlassen zu müssen.

Argumentationshilfe bei Klageverfahren: Die Ergebnisse des Gutachtens will der Fachverband vielfältig nutzen. Zum einen beschreibe es juristisches Neuland und werde zur juristischen Meinungsbildung beitragen, so Hasenau: "Auf der politischen Ebene können die Ausführungen als Grundlage zur Gestaltung der Gelingensfaktoren dienen und Orientierung bei weiteren Gesetzesvorhaben bieten." Gleichzeitig wird der Fachverband das Material seinen Mitgliedern kostenfrei zur Verfügung stellen, sei es als Arbeitshilfe für Verhandlungen mit dem Sozialamt oder als Argumentationshilfe in Klageverfahren. Eine leicht gekürzte Version des Gutachtens veröffentlicht die Zeitschrift für das Fürsorgewesen (ZfF) in der Ausgabe Juli 2017. Nicht-Mitglieder erhalten das Gutachten für eine Schutzgebühr von 15,- Euro beim Fachverband unter www.wig-nrw.de

Fachverband WIG WOHNEN IN GEMEINSCHAFT NRW eV.: In dem 2007 gegründeten, gemeinnützigen Verein wig – Wohnen in Gemeinschaft NRW haben sich Betreiber von 100 ambulanten begleiteten Wohngemeinschaften mit Betreuungsleistungen zusammengeschlossen, um dieser Wohnform politisch und sozial eine Stimme zu geben. Auch im 10. Jahr seines Bestehens ist wig NRW der einzige Fachverband in Deutschland, der aktuelles Fachwissen zu diesem Spezialthema mit jahrelanger Erfahrung und intensiver Praxiserfahrung verbindet. Wig Wohnen in Gemeinschaft NRW verfolgt das Ziel, ambulante Pflegedienste dazu zu befähigen, betreute Wohngemeinschaften auf hohem Qualitätsniveau selbst zu bauen, pflegerisch zu begleiten und nachhaltig wirtschaftlich zu führen. Auf diese Weise sollen laut WIG ambulant betreute Wohngemeinschaften bundesweit flächendeckend zur Regelversorgung werden.